Die Königin von Zwergenland

Zwergenland
© Susemie Konschewski

Pascal war ein guter Großvater. Wann immer seine Enkel in den Ferien bei ihm zu Besuch waren, ging er mit ihnen zum Angeln zum Fluss hinunter. Sie liebten es, den ganzen Tag mit ihm an der frischen Luft zu sein und kleine Fische aus dem Wasser zu ziehen, die sie in ihren Blecheimern sammelten und abends, wenn die Sonne sich neigte, stolz zur Großmutter nach Hause trugen. Die daraus in der Pfanne mit ordentlich Butter schmackhafte Leckereien zubereitete. Nach einem langen Tag landeten die kleinen, silbrigen Fische so in den Bäuchen der hungrigen Kinder, wie sie fanden eine ordentliche Belohnung für so viel Arbeit und Geduld am Flussufer.

 

Sobald die Dämmerung einsetzte, mahnte der Großvater sie, die Angelausrüstung zusammen zu packen und nicht mehr mit den Gummistiefeln im Wasser umher zu stapfen. Er wurde dann seltsam ernst und streng: „Kinder, sehen wir zu, dass wir zur Großmutter nach Hause kommen." Wenn dann doch einer von beiden nicht gehorchte und weiter im sich dunkler färbenden Wasser plantschte, wurde er lauter: „Ihr wisst doch genau, wie viele Kinder der Fluss pro Jahr auffrisst!"


Sofort sprangen sie dann aus dem Wasser. Er hatte ihnen die Legende von dem Fluss, der Kinder fraß unzählige Male erzählt. So recht hatten sie ihm nie geglaubt, bis sie in den letzten Ferien wieder zu den Großeltern gekommen waren und das Nachbarskind, mit dem sie in den Ferien immer zusammen gespielt hatten, plötzlich verschwunden war. Überall wurde nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Keiner wollte den Kindern recht sagen, was mit ihm geschehen sei. Aber es hieß, der Fluss habe es gefressen. Jetzt glaubten sie dem Großvater auch seine schaurigen Geschichten über den Fluss, der in den Abendstunden, wenn das Wasser sich dunkel färbte, unschuldige, kleine Kinder fraß.

 

Nichts desto trotz, wie das mit naseweisen Kindern so ist, erzeugte die Kombination aus Verbot und Legenden eine nicht zu bändigende Neugier, vor allem bei Pascals Enkelin Marie. Sie wollte wissen, was mit dem Nachbarskind passiert war und wie genau der Fluss die Kinder verspeiste. Oft kniete sie auf einem großen Stein direkt über der Wasseroberfläche und versuchte zu ergründen, was darunter vor sich ging. Wieso sollte ein Fluss so bösartig sein und Kinder fressen? War das Kind jetzt wohl tot? Wieso war es nicht einfach bis zur nächsten Böschung geschwommen? Alle Kinder lernten hier von klein auf schwimmen, um bloß nicht dem Fluss zum Opfer zu fallen. Auch das Nachbarkind hatte schwimmen gelernt. Marie konnte sich auf all diese Mysterien keinen Reim machen.

 

Ein beherzter Schubs ihres Bruders riss sie aus ihren Gedanken. „Hast du Großvater nicht gehört? Wir sollen zusammenpacken. Es wird Zeit..." Der Stoß war so heftig, dass Marie, die auf einem großen, grauen Stein gekauert hatte, um besser in den Fluss sehen zu können, ihr Gleichgewicht verlor und ins Wanken geriet. ...



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